Seit einigen Jahren hat die von Bruno Latour, Michel Callon, John Law, Madeleine Akrich und anderen vertretene Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Konjunktur. Aus Laborstudien hervorgegangen rückt die ANT die Verflechtung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren oder Aktanten in Netzwerken in den Mittelpunkt. Als Aktanten gelten ihr sämtliche Entitäten, denen ein Handlungspotential oder eine „agency“ zugeschrieben werden kann – „An actant can literally be anything provided it is granted to be the source of an action“ (Latour) –, so dass ein Pinsel oder ein Lichtbildprojektor ebenso wie ein Atelier oder eine Bibliothek genauso wie eine Artemisia Gentileschi oder ein Aby Warburg als ein solcher adressiert werden können.
Weil die ANT Subjekt und Objekt, Technik und Gesellschaft strikt symmetrisiert und damit auch die ‚Dinge‘ wieder zu ihrem Recht kommen lässt, wird sie gegenwärtig breit zum Beispiel in den Medienwissenschaften rezipiert. Neuere Publikationen haben zentrale Texte in deutscher Sprache verfügbar gemacht und differenzierte Diskussionen angestoßen. Fragen nach denjenigen sozialen, technischen und natürlichen Aktanten, die an künstlerischen oder kunstwissenschaftlichen Prozessen beteiligt sind, spielen indessen in der Diskussion bislang kaum eine Rolle.
In Kunst- und Bildwissenschaft ist der Ansatz kaum rezipiert – und das, obwohl eine Reflexion der ANT wichtige, aber bisher vereinzelt auftretende Untersuchungen zu ‚Atelier‘ oder ‚Instrument‘ systematisch integrieren und eine Reihe interessanter Fragen mit sich bringen könnte: Welches sind die Verbindungen menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten, die ‚Kunstgeschichte‘ oder ‚Bildwissenschaft‘ ermöglichen? Sind künstlerische, etwa installative Schaffensprozesse mit denen wissenschaftlicher Forschung vergleichbar und also auch mit ethnographischen Methoden der Laborforschung zu analysieren? Kann man die Subjekt/Objekt-Dichotomien von ‚KünstlerIn‘ und ‚Wer k‘ oder ‚BetrachterIn‘ und ‚Werk‘ durch eine Beschreibung als Operationsketten ebenso unterlaufen, wie dies Latour für die Dichotomie von ‚WissenschaftlerIn‘ und ‚Welt‘ vorgeführt hat? Oder hat der Ansatz vielleicht prinzipielle Grenzen hinsichtlich der Prozesse und Objekte, die unter dem Signum ‚Kunst‘ zirkulieren? Kann die ANT ihrerseits von der Kunst, die immer schon mit Dingen, Akteuren, Netzwerken und Transformationskaskaden zu tun hatte, lernen?
Eine Rezension in der FAZ finden Sie hier.
Inhalt der ZÄK 57, 1 2012:
Thomas Hensel und Jens Schröter: Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Herausforderung der Kunstwissenschaft – Eine Einleitung
Bruno Latour: Wie wird man ikonophil in Kunst, Wissenschaft und Religion?
Christoph Neubert: Vom Disegno zur Digital Materiality – Operationsketten der Reproduktion zwischen künstlerischer, biologischer und technischer Vermittlung
Ann-Sophie Lehmann: Das Medium als Mediator – Eine Materialtheorie für (Öl-)Bilder
Christian Berger: Multiplikation und Diversifikation der Bilder und der Akteure in Edgar Degas’ künstlerischer Praxis
Ilka Becker: Dead or Alive? Agency des Lebendigen und ›kritisches Vermögen‹ in Mark Dions Neukom Vivarium
Sabine Ammon: ANT im Architekturbüro – Eine philosophische Metaanalyse
Albena Yaneva: Der Aufbau von Installationen – eine pragmatische Annäherung an die Kunst